Die Sexwelle


Die 60er-Jahre begannen wie ihre Vorgängerjahrzehnte äußert prüde. Das Thema Sex wurde sowohl in den Medien als auch in Familie und Schule schamhaft verschwiegen. Führte in den 50ern der Film "Die Sünderin" zum Skandal, weil darin für wenige Sekunden ein nackter Frauenkörper zu sehen war, so hatten auch die frühen 60er ihren Skandalfilm, den schwedischen Film "Das Schweigen" von Ingmar Bergmann aus dem Jahre 1963. Drei kurze Szenen dieses schwarz-weiß Filmes erregten die Gemüter und wurden als anstößig betrachtet: der Liebesakt eines Paares auf einem Kinositz während einer Vorstellung, der Verkehr mit einem Fremden in einem Hotelzimmer und eine Masturbationsszene der Hauptdarstellerin.

"Das Schweigen", der 1964 in Schweden den erstmals verliehenen schwedischen Filmpreis "Guldbagge" in den Kategorien Beste Schauspielerin (Ingrid Thulin), Bester Regisseur (Ingmar Bergman) und Bester Film gewann und von vielen als Kultfilm gefeiert wurde, führte zu einem der größten Skandale der 60er-Jahre. Im Jahr der Erstaufführung 1964 verging kaum ein Tag ohne Proteste gegen diesen "Schweinkram" und nicht wenige Kinobesitzer, die diesen Film zeigten erhielten Bombendrohungen. Weil die FSK diesen Film in Deutschland trotz Proteste und vieler ablehnender Stimmen unerwartet freigegeben hatte (ab 18 Jahren), entstand die "Aktion Saubere Leinwand", die Unmoral unter dem Deckmantel der Kunst eindeutig ablehnte und von der FSK strengere Prüfungen und Freigaben verlangte.

Nicht nur bei Filmen, auch über Romane, Comics und sogar Schlagermusik wachte das Auge der strengen Moralhüter. Die Zeile "Doch am nächsten Tag fragte die Mama: Kind, warum warst du erst heut morgen da?" aus einem bekannten Schlager der Sängerin Manuela brachte die Schallplatte auf den Index des Bayerischen Rundfunks. Da half auch nicht die Ausrede "Schuld war nur der Bossa Nova" (so der Titel des Schlagers).
Das berüchtigste deutsche Lied Anfang der 60er, das den braven Bürgern die Schamesröte ins Gesicht trieb, war Laila von der niederländischen Gruppe Regento Stars. Die Sado-Maso-Andeutungen und willenlosen Damen im Text des Liedes waren mit der Moral der frühen 60er nicht vereinbar. Die deutschen Rundfunksender weigerten sich anfangs die Platte zu spielen und auf Druck der katholischen Kirche kam sie kurzeitig auf den Index und wurde verboten. Doch genauso wie bei dem Skandalfilm "Das Schweigen" führte dieses kurzeitige Verbot und die Warnungen der Moralhüter vor der Schande dieses Lieds, nur dazu, dass die Platte sich umso häufiger verkaufte und sogar auf den 1. Platz der verkauften Schallplatten landete.

Abtreibung war verboten (§ 218 StGB) und wurde mit Gefängnis oder Zuchthaus bestraft. Ungewollte Schwangerschaften waren ein ernsthaftes Problem. Mädchen, die noch zur Schule gingen, wurden deswegen von der Schule verwiesen. Die Zahl der Frühehen (Ehen von Jugendlichen unter 21 Jahren, die für die Heirat die Erlaubnis ihrer Eltern benötigten) stieg Anfang der 60er stark an. Man schätzte, dass ein gutes Drittel dieser jungen Bräute zum Zeitpunkt ihrer Heirat schwanger war. Auch Homosexualität (unter Männern) war noch strafbar (§ 175 StGB). Über 50000 Männer wurden in der Bundesrepublik Deutschland aufgrund dieses Paragraphen verurteilt, bevor er, nach einigen Reformen, im Mai 1994 komplett aus dem StGB gestrichen wurde. Ein anderer berüchtigter Paragraph aus dieser Zeit war der sogenannte Kuppeleiparagraph, §180 StGB. Er verbot Familienangehörigen, Bekannten und Vermietern unverheirateten Paaren Räumlichkeiten zur Verfügung zu stellen, in denen sie "Unzucht" treiben konnten. Unter Unzucht fiel jeglicher sexueller Kontakt zwischen unverheirateten Personen. So konnte eine Mutter, die ihrem erwachsenen Sohn in der elterlichen Wohnung Geschlechtsverkehr mit seiner Freundin oder Verlobten gestattete, mit Zuchthaus bis zu fünf Jahren bestraft werden. Untermietern war es verboten, nach 22:00 Uhr Besuch von Personen des anderen Geschlechts zu haben. Unverheiratet zusammen zu leben war zu dieser Zeit fast unmöglich.

Sexualität galt als "schmutziges Geheimnis". Alles was damit zu tun hatte war schmutzig, strafbar, Sünde. Aufklärung fand weitgehenst auf der "Straße" statt (wenn man von den Bienen und den Staubgefäßen der Pflanzen einmal absieht). Verhütungsmittel waren für Unverheiratete so gut wie nicht zu bekommen. 1961 brachte die Berliner Schering AG die erste, in den USA entwickelte, Anti-Baby-Pille auf den deutschen Markt. Eingeführt wurde sie als Mittel zur "Behebung von Menstruationsstörungen" und wurde nur verheirateten Frauen ärztlich verschrieben. Von der katholischen Kirche und konservativen Kreisen wurde die Pille abgelehnt und bekämpft. Das Verbot der Pille sowie der Verwendung von Kondomen gilt in der katholischen Kirche noch heute.

Etwa in der Mitte des Jahrzehnts lockerten sich, im Rahmen eines allgemein einsetzenden Wertewandels in der Gesellschaft, dann allmählich die sexuellen Moralvorstellungen. Vorreiter und wichtiger Initiator der bürgerlichen "Sexwelle" war der Volksaufklärer Nr. 1 Oswalt Kolle. Er war Verfasser zahlreicher Artikel, Aufklärungsserien in Illustrierten, Bücher und sonstiger Publikationen über Sexualität. In den Jahren 1968 bis 1972 sorgten seine Aufklärungsfilme für gut gefüllte Kinosäle. Aufgeklärt wurden aber nicht Jugendliche, sondern erst einmal Erwachsene. Genauer gesagt, verheiratete Erwachsene, denn Sex außerhalb der Ehe war immer noch tabu. Hier ein kurzer Ausschnitt von Oswalt Kolle aus "Das Wunder der Liebe".

Die verklemmte Sexualmoral kam ins Wanken und auch der Staat wollte da nicht zurückstehen. Unter der Leitung der Gesundheitsministerin der Großen Koalition (1966-69) Käte Strobel, entstand der Aufklärungsfilm "Helga" (1967) und der "Sexualkunde-Atlas" (1969). Die Geschäftswelt erkannte bald, dass mit der neuen Freizügigkeit gutes Geld gemacht werden konnte (Sex sells). Gewagtere Bilder in der Werbung und auf den Titelblättern von Zeitschriften, Geschichten über Sex und freizügige Veröffentlichungen in Illustrierten, sowie Sexfilme in den Kinos lockten die Kundschaft an. Selbst das doch eher konservative deutsche Fernsehen der 60er bot ihren Zuschauern immer freizügigere Szenen, um mit dem Nackt-Angebot in Illustrierten und auf Kinoleinwänden wenigsten etwas mithalten zu können.
Erklärte im Jahre 1968 das Landgericht München den Roman "Fanny Hill" von John Cleland aus dem 18. Jahrhundert für unzüchtig und entschied, dass alle Exemplare vernichtet und die Druckerplatten unbrauchbar zu machen seien, hob der BGH im Sommer 1969 im sogenannten "Fanny-Hill-Urteil" diese Entscheidung auf. Dieses Urteil liberalisierte den "Porno-Paragrafen" $ 184 des StGB, so dass die Deutschen ihre pornografischen Heftchen nicht mehr aus den skandinavischen Nachbarländern einschmuggeln mussten.

Wie die Hungerszeit der Nachkriegsjahre die Freßwelle der 50er-Jahre zur Folge hatte, entwickelte sich aus der Prüderie die Sexwelle der späten 60er. Zwar fand die neue Freizügigkeit nicht nur Zustimmung, sondern auch häufige Ablehnung in großen Teilen der Bevölkerung, dennoch veränderte sie den Umgang mit der Sexualität in der Öffentlichkeit. Sex war kein Tabu mehr. Die Menschen setzten sich mehr mit ihrer Sexualität und auch mit ihren sexuellen Problemen auseinander. Jugendliche wurden in der Schule aufgeklärt. Auch unverheiratete Mädchen bekamen die Anti-Baby-Pille verschrieben und Kondome waren nicht nur in der Apotheke, sondern bald auch in jedem Supermarkt zu bekommen. Gegenüber den Sexfilmchen im Kino erschien der Skandalfilm des Jahres 1964 bezüglich der Sex- und Nacktszenen inzwischen recht harmlos. Am 24. Mai 1971 wurde "Das Schweigen" zum ersten Mal im deutschen Fernsehen (ZDF) gezeigt. Aufgeregt hat sich darüber kaum noch jemand.





Abbildung :
1: TV-Premiere von "Das Schweigen", HÖRZU Ausgabe 20/1971, Axel-Springer-Verlag
2: Briefe an HÖRZU, HÖRZU Ausgabe 48/1969, Axel-Springer-Verlag


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